Donnerstag, 17. März 2022

Die Frau im Morgenrock (Woman in A Dressing Gown, UK 1957)


Yvonne Mitchell - wer kennt die 1979 verstorbene britische Schauspielerin heute noch? Sie wirkte vor allem auf der Bühne, spielte aber doch in einer stattlichen Anzahl Kinofilmen gewichtige Haupt- oder Nebenrollen. Und sie war eine der wandlungsfähigsten englischen Schauspielerinnen.
Ich wurde durch die Tolstoi-Verfilmung Pique Dame (The Queen of Spades, 1949) auf sie aufmerksam - dort hatte sie ihre erste grosse Leinwandrolle. In meiner Kritik von 2016 schreib ich über sie:
Besonders die mir bislang gänzlich unbekannte Yvonne Mitchell ist mir aufgefallen – sie spielt die Lizavjeta mit einer unglaublichen Mischung aus Zerbrechlichkeit und Standhaftigkeit, und ihre Ausbrüche sind derart herzzerreissend wahrhaftig, dass man nägelkauend um ihr Schicksal bangt. 

Yvonne Mitchell & Anthony Quayle

Ich staunte nicht schlecht, als ich die Mitchell gestern Abend dann zum zweiten Mal sah, in Woman in A Dressing Gown, der acht Jahre später entstand. Was für ein Kontrast: Als verblühte leicht vulgäre Unterschicht-Hausfrau ist sie kaum wiederzuerkennen. Ist es nötig, zu erwähnen, dass sie auch diese Rolle mit grösster Bravour und Authentizität spielt? Sie erhielt dafür an der Berlinale den silbernen Bären.

Woman in A Dressing Gown ist eine Art Vorwegnahme der späteren britischen Filme des sogenannten "Kitchen Sink Realism", die in den Dokumentarfilmen nachempfundener Manier vom Leben der kleinen Leute erzählten. Die "Kleinen Leute" dieses Films sind Amy und Jim (Yvonne Mitchell und Anthony Quayle) und ihr Sohn Brian (Andrew Ray). Jim hat eine Affäre mit der jüngeren Sekretärin Georgie (Sylvia Syms), die ihn dazu drängt, seine Frau zu verlassen.
Das interessante an diesem Werk ist die Zeichnung der Hauptfigur, Amy. Der Film ist ganz auf Yvonne Mitchell und deren schauspielerische Qualitäten ausgerichtet. Ihre Darstellung ist dabei fern jeder Eitelkeit. Mitchell gestaltet die aussergewöhnliche Rolle mit viel Zwischentönen und soviel Mitgefühl, dass sie wahr und real erscheint. 

Ted Willis' Drehbuch wirkt noch heute frisch und vermochte mich mit seiner tiefgründigen Auslotung einer alltäglichen Geschichte vollkommen zu überzeugen. Regisseur J. Lee Thompson, der später mit Action-Filmen wie etwa Die Kanonen von Navarrone berühmt wurde, transferiert die fragile Geschichte mit bewundernswerter Subtilität in bewegte Bilder.
Alles in allem war dieses vergessene Werk für mich eine rundum positive Überraschung. Ein Jammer, dass es im deutschsprachigen Raum nicht auf DVD erschienen ist... In England kann der Film als DVD von Optimum Home Entertainment bestellt werden.

For the record:
Bevor ich bei Woman in A Dressing Gown hängen geblieben bin, habe ich folgende Filme abgebrochen:  

Big Jake (1971)
Konventioneller Western mit einem gealterten John Wayne, der als Zugeständnis an New Hollywood realistisch blutige Schusswunden zeigt. Aus dem Zusammenprall zwischen dem Old West und der Neuzeit vermag der träge Film aus heutiger Sicht kaum Spannung zu beziehen...

Alle lieben Pollyanna (Pollyanna, 1960)
Sympathische, aber doch recht behäbige und belanglose Disney-Produktion um ein Waisenkind (Hayley Mills), das eine graue Kleinstadt mit ihrem Charme zu neuem Leben erweckt. Sehenswert: Karl Malden hat als apokalyptischer Dorfpfarrer hier einen seiner stärksten Auftritte.

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