Sonntag, 20. März 2022

The Aeronauts (2019)


Den aktuellen Quoten-Trend im Kino - Frauenquoten, ethnische Quoten, Minderheiten-Quoten - finde ich in der Regel nicht nur kontraproduktiv sondern in höchstem Masse lächerlich. Da werden Dickens-Verfilmungen entgegen jeglicher historischer Erkenntnis mit Schauspielern aus aller Herren Länder besetzt oder Männerrollen willkürlich in Frauenrollen umgemünzt. All dies geschieht in den meisten Fällen nicht aufgrund künstlerischer Gesichtspunkte, sondern aus Gründen der politischen Korrektheit.

Ab und zu kommt allerdings ein Film, der beide Aspekte unter demselben Hut vereint. Ich war überrascht, denn ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass ich The Aeronauts wegen seiner historischen Verbiegungen nicht zu Ende gucken würde.
Die Geschichte dreht sich um den Meteorolgie-Pionier James Glaisher, der zwischen 1862 und 1866 zusammen mit dem Ballonfahrer Henry Coxwell zahlreiche wissenschaftliche Ballonfahrten unternommen hatte. Coxwell wurde aber vom Filmstudio einfach eliminiert und quotentauglich durch eine Frau ersetzt. Es gab zwar zu jener Zeit ballonfahrende Frauen, etwa Sophie Blanchard, nach deren Vorbild die für den Film erfundene Figur der Amelia Wren modelliert wurde.

The Aeronauts von Tom Harper (Drehbuch und Regie) und Jack Thorn (Co-Drehbuch) geht allerdings einen Schritt weiter, indem er das historische Gerüst mittels poetisch-fantastischer Elemente künstlerisch überhöht und die Verquickung von Wissenschaftlichkeit und Kunst gleich auch zu seinem heimlichen Haupt-Thema macht. Dass dies eine Hymne auf die Magie des Kinos dessen Erzähltraditionen ergibt, haben die einander abschreibenden Mainstream-Kritiker wieder mal nicht gemerkt - The Aeronauts wurde mehrheitlich verrissen, u.a. wegen mangelnder historischer Genauigkeit. 

Ist man gewillt und in der Lage, etwas tiefer zu blicken, kommt man zur Erkenntnis, dass Tom Harpers Film ein cinèastisches Meisterstück ist. Zuzusehen, wie die beiden Hauptfiguren (gespielt von Felicity Jones und Eddie Redmayne), deren gemeinsame Szenen sich praktisch auf den engen Ballonkorb beschränken, sich im Lauf der Handlung in kleinsten Schritten aufeinander zu bewegen, ist nicht nur hoch spannend, sondern auch höchst gekonnt geschrieben und inszeniert. Für mich ein herausragender Kinostück, das sich keinem Genre zuordnen lässt und doch mit den gängigen Filmgenres von Fantasy über Action und Abenteuer bis zum Liebesdrama fast alles Revue passieren lässt, was das Kino von Anbeginn weg gross gemacht hat.

Im Zentrum von The Aeronauts steht ein Ballonflug, der in Echtzeit vorgeführt wird. James Glashier tat sich dafür mit der Schaustellerin und Ballonfahrerein Amelia Wren zusammen, um in luftigen Höhen seine von anderen Wissenschaftlern verlachten meteorologischen Studien durchführen zu können. Die Artistin und der Wissenschaftler sehen sich im Zug ihres Aufstiegs in schwindelnde Höhen mit den zahlreichen Schönheiten, aber auch mit den tödlichen Gefahren einer Natur konfrontiert, die sich die damaligen Menschen noch nicht erschlossen hatten. Beides wird zu intensiven Kinomomenten von hoher bildnerischer und emotionaler Kraft verdichtet.
Der Aufstieg wird an geeigneten Stellen immer wieder mit Rückblenden in die Vorgeschichte des Unternehmens unterbrochen, welche ausstatterisch und kostümtechnisch eine Augenweide bieten.

The Aeronauts ist nicht nur ein Film von aussergewöhnlicher Bildkraft, er vermag auch punkto Charakterzeichnung und Erzähltechnik vollends zu überzeugen.
Angesichts der vielen schlechten Rezensionen eine freudige Überraschung!

Den Film gibt es zur Zeit ausschliesslich im Stream (und da auch nur bei amazon) zu sehen.

Donnerstag, 17. März 2022

Die Frau im Morgenrock (Woman in A Dressing Gown, UK 1957)


Yvonne Mitchell - wer kennt die 1979 verstorbene britische Schauspielerin heute noch? Sie wirkte vor allem auf der Bühne, spielte aber doch in einer stattlichen Anzahl Kinofilmen gewichtige Haupt- oder Nebenrollen. Und sie war eine der wandlungsfähigsten englischen Schauspielerinnen.
Ich wurde durch die Tolstoi-Verfilmung Pique Dame (The Queen of Spades, 1949) auf sie aufmerksam - dort hatte sie ihre erste grosse Leinwandrolle. In meiner Kritik von 2016 schreib ich über sie:
Besonders die mir bislang gänzlich unbekannte Yvonne Mitchell ist mir aufgefallen – sie spielt die Lizavjeta mit einer unglaublichen Mischung aus Zerbrechlichkeit und Standhaftigkeit, und ihre Ausbrüche sind derart herzzerreissend wahrhaftig, dass man nägelkauend um ihr Schicksal bangt. 

Yvonne Mitchell & Anthony Quayle

Ich staunte nicht schlecht, als ich die Mitchell gestern Abend dann zum zweiten Mal sah, in Woman in A Dressing Gown, der acht Jahre später entstand. Was für ein Kontrast: Als verblühte leicht vulgäre Unterschicht-Hausfrau ist sie kaum wiederzuerkennen. Ist es nötig, zu erwähnen, dass sie auch diese Rolle mit grösster Bravour und Authentizität spielt? Sie erhielt dafür an der Berlinale den silbernen Bären.

Woman in A Dressing Gown ist eine Art Vorwegnahme der späteren britischen Filme des sogenannten "Kitchen Sink Realism", die in den Dokumentarfilmen nachempfundener Manier vom Leben der kleinen Leute erzählten. Die "Kleinen Leute" dieses Films sind Amy und Jim (Yvonne Mitchell und Anthony Quayle) und ihr Sohn Brian (Andrew Ray). Jim hat eine Affäre mit der jüngeren Sekretärin Georgie (Sylvia Syms), die ihn dazu drängt, seine Frau zu verlassen.
Das interessante an diesem Werk ist die Zeichnung der Hauptfigur, Amy. Der Film ist ganz auf Yvonne Mitchell und deren schauspielerische Qualitäten ausgerichtet. Ihre Darstellung ist dabei fern jeder Eitelkeit. Mitchell gestaltet die aussergewöhnliche Rolle mit viel Zwischentönen und soviel Mitgefühl, dass sie wahr und real erscheint. 

Ted Willis' Drehbuch wirkt noch heute frisch und vermochte mich mit seiner tiefgründigen Auslotung einer alltäglichen Geschichte vollkommen zu überzeugen. Regisseur J. Lee Thompson, der später mit Action-Filmen wie etwa Die Kanonen von Navarrone berühmt wurde, transferiert die fragile Geschichte mit bewundernswerter Subtilität in bewegte Bilder.
Alles in allem war dieses vergessene Werk für mich eine rundum positive Überraschung. Ein Jammer, dass es im deutschsprachigen Raum nicht auf DVD erschienen ist... In England kann der Film als DVD von Optimum Home Entertainment bestellt werden.

For the record:
Bevor ich bei Woman in A Dressing Gown hängen geblieben bin, habe ich folgende Filme abgebrochen:  

Big Jake (1971)
Konventioneller Western mit einem gealterten John Wayne, der als Zugeständnis an New Hollywood realistisch blutige Schusswunden zeigt. Aus dem Zusammenprall zwischen dem Old West und der Neuzeit vermag der träge Film aus heutiger Sicht kaum Spannung zu beziehen...

Alle lieben Pollyanna (Pollyanna, 1960)
Sympathische, aber doch recht behäbige und belanglose Disney-Produktion um ein Waisenkind (Hayley Mills), das eine graue Kleinstadt mit ihrem Charme zu neuem Leben erweckt. Sehenswert: Karl Malden hat als apokalyptischer Dorfpfarrer hier einen seiner stärksten Auftritte.

Freitag, 11. März 2022

Seh-Empfehlung 34: Cast Away - Verschollen (Cast Away, 2000)


Diesmal ging es schnell - schon der erste Film nach meinem letzten Artikel war ein Treffer. Diesmal also eine Rezension ohne die obligate "Liste der abgebrochenen Filme" am Schluss.

Cast Away
war nach dem Klassiker Forrest Gump (1994) die zweite erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur Robert Zemeckis und dem Star-Schauspieler Tom Hanks. Das Drehbuch stammt aus der Feder von William Broyles Jr., der bereits früher für einen Tom Hanks-Klassiker als Drehbuchautor fungierte:
Apollo 13 (1995).
Eine bemerkenswerte Massierung von Talent also, und tatsächlich überzeugt Cast Away während seiner gesamten Laufzeit: Der Film packt von Anfang an, bereits die Vorgeschichte, welche das Alltagsleben der Hauptfigur zeigt, ist spannend - weil man weiss, was da bald auf sie zukommt.

Chuck Noland (Tom Hanks), ein hohes Tier bei der Zustellfirma FedEx, ist derart in seine Arbeit eingespannt - eben wurde eine Dependance in Moskau eröffnet - dass er kaum Zeit für seine Verlobte Kelly (Helen Hunt) findet. Die geplante Heirat muss warten, nicht zuletzt, weil auch sie zeitlich eingespannt ist - in ihr Studium.
Als Chuck sich vor einem weiteren seiner vielen Flüge von Kelly verabschiedet, ahnen beide nicht, dass es erst Jahre später zu einem Wiedersehen kommen wird: Chucks Maschine stürzt über dem Südpazifik ab, als einziger Überlebender landet er auf einer verlassenen Insel. Ohne jede Aussicht auf Rettung, wie sich bald zeigt. Er muss sich alleine durchkämpfen und klammert sich dabei gegen alle Widrigkeiten und Wahrscheinlichkeit ans letzte, was ihm geblieben ist: sein Leben.

Zemeckis' Film wartet mit einigen visuellen Überraschungen im ansonsten minimalistisch gestalteten Überlebensepos auf. Auf der Insel gibt es kaum Dialog, wenig Handlung, dafür umso mehr einfallsreicher herbeigeführte Wendungen:
Pakete aus der verunglückten Luftfracht werden angeschwemmt; ein bemalter Volleyball wird zu Chucks Gesprächspartner, was dessen geistige Gesundheit rettet; scheinbar nutzlose angeschwemmte Videokassetten finden später eine wichtige Verwendung...
Das Drehbuch sorgt geschickt und ohne Sensationslüsternheit für permanente Spannung.

Cast Away erzählt von einem, der alles verliert und sich selbst an einem fremden, unwirtlichen Ort neu erfindet. Den er am Ende aufgibt, indem er nach mehreren einsamen Jahren ins Ungewisse aufbricht. Im Grunde wird hier die Geschichte eines langen Abschieds erzählt, an dessen Ende unser Protagonist vor dem Nichts steht. Doch wer ganz zu Beginn des Films genau aufpasst, kann erahnen, wie der Film enden wird. Dies bleibt zwar offen, aber in diesem Moment übernimmt das Wunschdenken des Zuschauenden die Rolle des Erzählers. Und deshalb gibt es ein Happy End. Das spricht sehr für den Film, denn die Hauptfigur wächst einem in den fast zweieinhalb Stunden der Filmdauer so ans Herz, dass man ihm am Ende des Weges nur das Beste wünscht.

Cast Away - Verschollen gibt es hierzulande auf Blu-ray, DVD und bei zahlreichen Anbietern online.


 

Sonntag, 6. März 2022

Seh-Empfehlung 33: Das unheimliche Fenster (The Window, 1949)

Nach vielen vergeblichen Versuchen, einen guten Film zu sehen (siehe Anhang unten), ist es mir nun endlich gelungen, wieder einmal ein empfehlungswürdiges Kinowerk auszumachen: The Window von Ted Tetzlaff (Regie) und Mel Dinelli (Drehbuch).
Er bringt eine (weitere) Variation jener sattsam bekannten Geschichte des Jungen, der spasseshalber das Dorf vor dem Wolf warnte, und dem niemand glaubte, als der Wolf dann wirklich kam. 

Tommy, ein phantasiebegabter Junge aus dem New Yorker Arbeitermilieu der späten Vierzigerjahre (Bobby Driscoll) hat seine Eltern (Arthur Kennedy und Barbara Hale) schon öfters mit seinen Lügengeschichten in Schwierigkeiten gebracht. Als er Zeuge wird, wie das als nett geltende Ehepaar Kellerson (Paul Stewart und Ruth Roman), das im selben Block wohnt, einen Mann ermordet, glaubt niemand seiner Erzählung.
So weit, so bekannt. Auch "so langweilig"? Nein, denn nun kommt eine Kette von Ereignissen in Gang, welche dazu führt, dass die bislang ahnungslosen Kellersons von Tommys Mitwisserschaft erfahren. Als Tommy eine Nacht allein zu Hause verbringen muss, sehen sie die Gelegenheit für gekommen, den Zeugen aus dem Weg zu räumen.

Die grösste Stärke des Filmes ist das Erzählen aus der Kinderperspektive. Sämtliche Erwachsenen, sogar die eigenen Eltern, erscheinen dabei als übermächtige Gegenspieler und Feinde. Alle sind auf die eigene Reputation bedacht, die in ihren Augen darunter litte, würden sie den Spinnereien eines Kindes Glauben schenken. Auf seinem eigenen Spielplatz - einem halb verfallenen mehrstöckigen Nachbarhaus, in dem er sich auskennt - gelingt es Tommy schliesslich ohne Hilfe der "Grossen", seine Verfolger unschädlich zu machen.

Man merkt dem Film an, dass Regisseur Tetzlaff früher Kameramann war - seine Schwarzweisskompositionen sind eine Augenweide und erzeugen mittels oft ungewohnter Perspektive eine untergründige Spannung.
Die Figuren sind gut gezeichnet und vor allem hervorragend gespielt, wobei in erster Linie Kinderstar Bobby Driscoll hervorzuheben ist, der hier eine erstaunlich reife und glaubhafte Leistung abliefert (er wurde dafür 1950 mit einem Spezial-Oscar für Kinderdarsteller
ausgezeichnet), aber auch Paul Stewart und Ruth Roman als zwieliechtiges Paar liefern präzise und absolut wasserdichte Leistungen ab.

The Window ist ein kleiner Film (er dauert gerade mal 73 Minuten), der mit bescheidenem Budget grösstmögliche Wirkung erzielt. Obwohl er lange Zeit in Vergessenheit geraten war, zählt er zu den stärksten Vertretern des amerikanischen Film-Noir.

For the record:
Bevor ich bei The Window hängen geblieben bin, habe ich folgende Filme abgebrochen: 

- Belfast (2021)
Ich finde es problematisch, noch nicht weit zurückliegende historische Ereignisse, über die Dokumentarfilmmaterial und detaillierte schriftliche Berichte zu Hauf existieren, zu einem Spielfilm zu verarbeiten. Erstens: What's the point? Zweitens wirkt hier alles künstlich und gestellt. Gut inszeniert, aber komplett sinnlos...

 - Finch (2021)
Schlecht gemacht ist dieser Weltuntergangs-Science-Fiction ja nicht; Tom Hanks spielt sehr gut und der Roboter Jeff ist bisweilen köstlich. Aber der depressive Grundton des Films ging mir dann je länger je stärker derart gegen den Strich, dass ich aufhörte, gegen meine Zweifel anzukämpfen und abbrach.

- The Girl on the Train (2016)
Die Verfilmung von Paula Hawkins' gleichnamigem Erfolgsroman ist eine frustrierende Angelegenheit. Auf Effekte getrimmt, gibt er sämtliche Geheimniss der Hauptfiguren schon zu Beginn preis und krempelt so die Struktur der Vorlage - zugunsten billiger Effekthascherei - komplett um. Was den Roman so interessant macht, wird hier einfach über Bord geworfen.

- Rush: Alles für den Sieg (Rush, 2013)
Die Rivalität zwischen den beiden Formel1-Fahrern
James Hunt and Niki Lauda als Film - das mag vielleicht für Formel1-Fans von Interesse sein. Ich fand's aufgrund plakativer Charakterzeichnung nur langweilig. Im übrigen gilt hier im Prizip dasselbe, was ich schon bei meiner Kritik an Belfast geäussert habe (s. oben)...

- Der Mann, der König sein wollte (The Man Who Would Be King, 1975)
Vielgelobter Abenteuerfilm von John Huston. Ich hatte keine Lust, den beiden grund-unsympathischen Hauptfiguren über zwei Stunden durch ihre menschenverachtenden Betrügereien zu folgen.


- Der siebte Geschworene (Le septième juré, 1962)
Ein mit prätentiösem Gebaren kredenzter französisches Psycho-Drama um einen bislang respektablen Apotheker, der im Affekt eine junge Frau umbringt. Unsäglich hochtrabend, schon nach 15 Minuten hatte ich das artifizielle Getue satt. Einmal zeigt sich hier: Wer keine Geschichte erzählen kann, nimmt Zuflucht in die Kunstbeflissenheit...

- Repeat Performance (1947)
Eine seltsame Mischung aus Fantasy und Film-Noir. Nachdem eine juge Frau am Sylvesterabend ihren Ehemann erschossen hat, erhält sie die Chance, das alte Jahr nochmals zu durchleben und begangene Fehler zu vermeiden.
Hier wurde ein interessantes Thema durch mangelndes Talent auf allen Ebenen verschenkt.

- Topper - das blonde Gespenst (Topper, 1937)
Schlichtweg zu albern! Constance Bennett und Cary Grant als reiches Screwball-Paar, das ihre Umgebung mit kindischem Gehabe nervt und nach einem Unfall als Geister einen Bankdirektor auf den "richtigen" Weg bringen will... So ein Film glänzt natürlich nicht gerade durch nuancierte Figurenzeichnung.


Spielfilme auf Youtube: Heil dem siegreichen Helden (Hail the Conquering Hero, 1944)

Heute: Heil dem siegreichen Helden (1944) Zu sehen in HD und in voller Länge mit deutschen Untertiteln auf youtube (Link s. unten). USA 19...