Freitag, 7. August 2020

Harold, der Drachentöter (Welcome Danger, 1929)


Welcome Danger (dt.: Harold, der Drachentöter, 1929)
Mit Harold Lloyd,
Barbara Kent, Noah Young, Charles Middleton, James Wang, Will Walling, Edgar Kennedy,  u.a.
Drehbuch: Felix Adler, Lex Neal, Clyde Bruckman und Harold Lloyd
Produzent: Harold Lloyd
Regie: Clyde Bruckman und Malcolm St.Clair
 
Kamera: Walter Lundin und Henry N. Kohler 
Musik: C. Bakaleinikoff
Studio: Paramount
Kino/TV-Auswertung im deutschsprachigen Raum: Januar 1931
Dauer: 113 min

Farbe: schwarzweiss


Harold Bledsoe (Lloyd), ein Blumenliebhaber, trifft auf dem Weg nach New York auf die hübsche Billie Lee (Barbara Kent), die mit ihrem gehbehinderten kleinen Bruder ebenfalls dorthin unterwegs ist. Der chinesische Arzt Dr. Gow (James Wang) verspricht Heilung und man will den Bruder in seiner Praxis in Chinatown untersuchen lassen.
Doch da wird der gute Doktor von den chinesischen Untergrundorganisation "Dragon" entführt, hinter deren Anführer die Polizei schon lange her ist. Harold wird, als Sohn des hochgeachteten ehemaligen Polizeichefs in die Suche verwickelt und als letzte Hoffnung auf "den Drachen" angesetzt...


Welcome Danger liegt eine Handlung zugrunde, die ziemlich umständlich und verworren wirkt. Der Film benötigt denn auch beinahe zwei Stunden, um damit klar zu kommen. Nun basierten allerdings schon einige der früheren Langfilme Harold Lloyds auf solch komplizierten Handlungsgerüsten. Es handelte sich dabei um Stummfilme und Lloyd war damals Meister der verknappten ökonomischen Erzählweise: Was kompliziert war, wirkte in seinen Händen elegant und flüssig. Aus Welcome Danger jedoch ist alle Eleganz und alle Ökonomie verschwunden; es handelt sich um Harold Lloyds ersten Tonfilm.

Dialoge, Dialoge, Dialoge!
Dieser Film scheint mir ein erhellendes Beispiel dafür, was mit der Einführung des Tons im Kino geschah und was jene zwei, drei Jahre nach dessen Einführung veränderten.
Weil die Leute plötzlich verrückt nach gesprochenen Dialogen waren, wurden solche eingebaut, wo's ging - auch wenn sie völlig unnötig waren.

So sehen wir uns hier - stellvertretend für viele Langfilme jener Zeit - mit dem Phänomen konfrontiert, dass die Handlung an bestimmten Stellen immer wieder stehen bleibt oder sich im Kreise zu drehen beginnt, einfach weil gesprochen werden musste - auch wenn es dem Fortgang der Erzählung nicht zutäglich war. Die daraus entstehende Statik irritiert, gerade bei Lloyd und anderen dem Tempo verpflichteten Stummfilmkomödianten. Sie verhindert einen vernünftigen Erzählfluss und die Kompliziertheit und Konstruiertheit des Plots tritt spürbar zu Tage. Und was zuvor mittels Pantomime und einem sporadischen, knapp formulierten Zwischentitel rasch klargestellt wurde, wird nun zerredet.

Verschlimmert wurde die Sache, wenn die Dialoge - wie hier - auch noch schlecht geschrieben waren. In Welcome Danger wirken sie nicht selten aufgesetzt und plump, und von Komik ist keine Rede mehr. Wir stehen somit dem Phänomen gegenüber, dass Lloyds Komödien, diese ins Kleinste durchdachten, brillianten, aufregenden Stummfilmpreziosen durch den Tonfilm in ihr pures Gegenteil verkehrt werden - von einem Film zum nächsten. Wo man früher noch lange hätte weiterschauen mögen, hofft man, die Pein möge bald ein Ende nehmen.

Es gibt zugegebenermassen ein paar gelungene Sequenzen, die schmerzlich eine Ahnung erwecken, wie gut Welcome Danger als Stummfilm hätte werden können; tatsächlich wurde er zunächst als solcher konzipiert und sogar gedreht und dann hastig und mit vielen Nachdrehs umgearbeitet. Man fügte bei, wo früher die Kunst des Weglassens praktiziert wurde. Ungefähr die Hälfte des fertigen Films wurde beibehalten und mit einer rudimentären, aus heutiger Sicht primitiven Nachsynchronisation versehen, der Rest wurde mit Ton nochmals neu gedreht. So wurde aus Welcome Danger vor allem eins: Der erste von Harold Lloyds Langfilmen, der jegliches Gespür für das richtige Mass vermissen lässt.

Stummfilm vs Tonfilm
Hinzu kommt die Tatsache, dass viele Stummfilm-Gags mit Ton nicht mehr funktionieren. Ein Beispiel: Der Beginn von Lloyds berühmtestem Film, Safety Last, ist so inszeniert, dass wir zunächst glauben, der Held werde zum Galgen geführt. Es stellt sich heraus, dass wir nur einer Abschiedsszene am Bahnhof beiwohnen und durch das geschickte platzieren einiger Bahnutensilien auf die falsche Fährte geführt worden sind. Der Ton (Bahnhofgeräusche, Abschiedsworte) würde diesen Eindruck sofort zerstören.
Noch deutlicher wird der Effekt bei der Fassadenkletter-Sequenz im selben Film. Mit Ton und Begleitmusik funktioniert sie hevorragend. In seinem zweiten Tonfilm, Feet First, baute Lloyd nochmals eine ähnliche Sequenz ein. Hier nun ist dank des Tons jegliche Komik weg - die Musik fehlt, man hört Umgebungsgeräusche und vor allem Lloyds Angstschreie. So wirkt die Sequenz nur noch angsteinflössend.


Es waren nicht ihre "ungeeigneten Sprechstimmen", welche einigen Stummfilmkomödianten das Genick brachen, wie immer wieder mal kolportiert wird; Harold Lloyd hatte eine angenehme, seiner Figur angemessene Stimme. Es war die Transition der Komik, welche Lloyd, Keaton und andere zu Beginn der neuen Aera nicht auf Anhieb bewältigen konnten. Sie, die wie niemand sonst auf stumme Pointen und Pantomime spezialisiert waren, sich diese Spezialität in jahrelanger harter Arbeit selbst erarbeitet hatten, sahen sich praktisch von heute auf morgen mit einer Technik konfrontiert,, in der ihr bisheriges Denken keinen Sinn und keinen Witz mehr ergab.


Natürlich wäre es praktisch und mit einigen Abstrichen möglich gewesen, weiterzumachen wie zu stummen Zeiten: Pantomimische Komik mit einer das Tempo und die Komik unterstützenden Musikbegleitung im Hintergrund. Aber niemand wollte das (mit Ausnahme von Chaplin, siehe weiter unten). Der Ton war das Gebot der Stunde und das bedeutete vor allem: Reden. Dialog. Gespräche. Und Geräusche. Das Publikum wollte die Illusion der Wirklichkeit, welcher das Kino durch die Entwicklung des Film-Tons ein Stück näher gekommen war.
Die Pantomime musste, zumindest in den ersten zwei, drei Jahren, abdanken - und dem hatten weder Harold Lloyd noch Buster Keaton noch andere selbständig arbeitende Stummfilmstars auf die Schnelle etwas entgegenzusetzen. Das dramatische Genre war weniger stark betroffen: Der Unterschied vom Stummfilm- zum Tonfilmdrama war vom dramaturgischen Gesichtspunkt her gesehen nicht so gravierend, im Gegenteil: Das elegische Erzählen konnte mit Ton sogar noch stärker ausgekostet werden.
Die Agilität und das schiere Tempo der pantomimischen Komödie jedoch kam zu einem brutalen Ende.


Wie es weiter ging
Das war denn auch einer der Hauptgründe für Charlie Chaplins Weigerung, auf den Tonfilm-Hype aufzuspringen; er erkannte die Gefahr und produzierte mit City Lights (1931) und Modern Times (1936) noch zwei weitere Stummfilmkomödien, bevor er dann 1940 mit The Great Dictator schliesslich doch umstieg. Konsequenterweise trennte er sich mit diesem Film von seinem Tramp - für dessen Komik war im Tonfilm kein Platz mehr.
Lloyd bemerkte die Gefahr vorerst nicht und sah den Tonfilm als neue Herausforderung an.
Welcome Danger wurde zwar ein Kassenerfolg - zu jener Zeit lachten die Leute, wenn man nur ein Ei in der Pfanne brutzeln hörte.
Lloyd aber war mit seinem neuen Film nicht glücklich. Er spürte, dass etwas fehlte und versuchte, es beim nächsten besser zu machen.
Erst mit Feet First erkannte er das Problem.
Er drehte danach - mit abnehmendem Publikumserfolg - noch fünf weitere Langfilme, bevor er sich 1947 aus dem Filmgeschäft zurückzog.


Von den wenigen, die auf ihre alte Art weitermachten, waren Chaplin und Stan Laurel am erfolgreichsten. Und es war vor allen anderen Stan Laurel, der es mit der Billigung Hal Roachs schaffte, die Pantomime und den Tonfilm zu einer befriedigenden Einheit zu bringen und damit Erfolg zu haben. Das Duo Laurel & Hardy rette die Kunstform der stummen Slapstickkomödie über die kurze und schwierige Anfangszeit des Tonfilms hinweg, wo alles nach Dialogen lechzte. Nach knapp drei Jahren hatten die Leute das übermässige Gelaber und die Statik im Kino satt, anderes wurde wieder möglich.
Die Marx-Brothers kamen mit einer eigenen Mischform zum Erfolg, und so fand die pantomimische Slapstick-Komödie den Weg zurück in die Kinosäle. Das Erbe Harold Lloyds und seiner Zeitgenossen gesichert - bis heute, wo deren Stummfilme wieder aufgeführt werden.


Welcome Danger ist Teil der hierzulande erschienen 10 DVD-Box "Harold Lloyd Edition", die inzwischen vergriffen, antiquarisch aber noch erhältlich ist.



Michael Scheck

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