Donnerstag, 22. Oktober 2020

Seh-Empfehlung 12: Augen der Angst (Peeping Tom, England 1960)


 

Originaltitel: Peeping Tom
Deutscher Titel: Augen der Angst (Deutsche Kinopremiere Februar 1961)
Grossbritannien 1960
Mit Karlheinz Böhm (Carl Boehm), Anna Massey, Moira Shearer, Maxine Audely, Brenda Bruce, Miles Malleson, Esmond Knight u.a.
Regie: Michael Powell
Drehbuch: Leo Marks
Produzenten: Michael Powell
Kamera: Otto Heller
Musik: Brian Easdale
Dauer: 101 min
Farbe: color

Bewertungen: 
imdb.com: 7,7 / 10 (30'487 Stimmen)

Letterboxd.com: 3,4 / 5 (20'084 Stimmen)
Meine Wertung:
Meisterwerk

Peeping Tom macht uns von Beginn weg zu Komplizen des Täters. Durch die subjektive Kamera werden wir Zeugen eines Mordes an einer Prostituierten. Als die Polizei am Tatort auftaucht, wechselt der Blickwinkel und die Person des Mörders wird uns enthüllt. Obwohl er dort weiterfilmt und den Polizeieinsatz auf Zelluloid bannt, schöpft die Polizei keinen Verdacht, denn der Mann gibt sich zufällig in der Nachbarschaft anwesender als Reporter aus.
Von nun an begleiten wir den Mörder, Mark (Karlheinz Böhm), der in seinem Kamerastativ einen Dolch eingebaut hat. Wir erfahren, dass er darauf aus ist, die Angst seiner Opfer auf Film zu bannen.
Mark ist ein schüchterner junger Mann, der beim Film
arbeitet und ein scheinbar normales, aber zurückgezogenes Leben im obersten Stockwerk seines Elternhauses lebt; die anderen Stockwerke vermietet er. Zwischen ihm und der Tochter einer der Mieterinnen enspinnt sich eine zaghafte Liebesgeschichte, in deren Zug Mark das Geheimnis seiner schrecklichen Kindheit offenbart: Mark wurde von seinem Wissenschaftler-Vater als Forschungsobjekt missbraucht; der Vater wollte die Wirkung von Angst auf das Nervensystem untersuchen und bannte die Reaktionen seines Sohnes auf Film...

Gedanken vor dem Film:
Ich hatte Peeping Tom als Jugendlicher gesehen und war damals ziemlich verstört. Das war in einer Zeit, in der Slasher-Filme nur unter dem Ladentisch gehandelt wurden und als verwerflich galten. Für die wenigsten Filmfreunde waren expilzit gezeigte Blutrünstigkeiten so normal, wie sie es heute sind. Da konnte ein in dieser Beziehung harmloser Film wie Peeping Tom durchaus noch schockieren. Damals wollte ich den Film nie wieder sehen.
Da ich inzwischen aber einige der früheren Filme von Regisseur Michael Powell gesehen hatte und ihn als Regisseur ausserordentlich schätze, beschloss ich, mir Peeping Tom trotz meiner damaligen Vorbehalte nochmals anzusehen...

Gedanken nach dem Film:
...und das habe ich nicht bereut. Peeping Tom ist ein Meisterwerk!
Natürlich ist er eine Refelxion über den Film und das Zuschauen an sich, das wird von den Kritikern immer wieder wortreich herausgestrichen; doch das ist der oberflächliche Teil des Films, und der interessiert mich kaum. Es gibt wichtigeren Aspekte darin. 

In Powells Film ist der Mörder dem Publikum von Anfang an bekannt, die Jagd nach dem Serienkiller ist sekundär, für uns gibt es kein Rätselraten. So mochte Alfred Hitchcock seine Krimis am liebsten so. Powell stellt Hitchcock gewissermassen auf den Kopf: Er macht den Mörder zur Hauptfigur. Bei Hitchcock waren die Mörder zwar bekannt, doch er stellte stets die Guten in den Mittelpunkt der Geschichten. Powell durchbricht diese Regel, und damit war er seiner Zeit voraus: Zudem ist der Mörder ist bei ihm nicht explizit böse; er ist gewissermassen der Gute und der Böse in Personalunion.


Das kam 1960 nicht gut an. An den Reaktionen der damaligen Kritik kann man heute ablesen, dass Michael Powell damit ein Tabu gebrochen hatte. Es gab wüste und wütende Verrisse, die gar nicht zur sprichwörtlichen Englischen Contenance passen. "Das einzig Vernünftige, um Peeping Tom loszuwerden, wäre, ihn zusammenzuschaufeln und in den nächsten Gully zu spülen", schrieb ein Kritiker besispielsweise. Peeping Tom wurde nach fünf Tagen Spielzeit und massiven Protesten aus dem Verleih genommen; Michael Powells Karriere als unabhängiger Regisseur fand damit ein jähes Ende. Auch die Karriere des Hauptdarstellers Karlheinz Böhm erhielt einen empfindlichen Knick; Böhm wollte mit diesem Film dem Image entfliehen, das ihm mit den drei Sissy-Verfilmungen aufgedrückt wurde - ein Vorhaben, das gründlich daneben ging.

Heute gilt Peeping Tom als Meisterwerk und als einer der ersten Serienmörder-Filme. Das für mich damals Verstörende war die Art, wie Mark seine Opfer umbringt und dass er ihre Todesangst filmt. Die dem Film inhärente Diskrepanz zwischen dieser schrecklichen Tat und dem bemitleidens- ja, liebenswerten jungen Mann dahinter geht unter die Haut. Peeping Tom macht die innere Zerissenheit eines Menschen mit erzählerischen Mitteln nachvollziehbar, indem er das Publikum dieser Diskrepanz - für damalige Verhältnisse schonungslos - aussetzt. Wie aufwühlend es ist, wenn das komfortable Gut-Böse-Schema aufgebrochen und unterminiert wird, erfährt man auch noch, wenn man den Film heute anschaut. Er hat kaum etwas von seiner Wirkung eingebüsst.


Soviel zum Thema Erzählkonventionen. Der gewichtigste Punkt, den der Film meines Erachtens macht, liegt im menschlich-psychologischen Bereich. Wie akkurat er da ist, kann ich schlecht beurteilen, da müsste man Psychologen zu Rate ziehen. Ob der vom Film gezeigte Versuchskaninchen-Status in früher Kindheit tatsächlich einen derart verheerenden Effekt auf die menschliche Psyche haben kann, sodass die Person als Erwachsener das am eigenen Leib erlebte Experiment quasi fortzusetzen gezwungen ist, sei dahingestellt; abwegig erscheint es mir nicht.
Worauf Peeping Tom hinauswill, ist aber unabhängig vom Wahrscheinlichkeitsgrad der Appell, die Kindheit als ein zerbrechliches Gut zu achten; was ein Kind an Unverarbeitbarem erlebt, ist im Erwachsenenalter noch immer da, ungelöst, quälend und nicht selten in Form einer Zeitbombe - für sich selbst oder für andere. Diesem Statement verhelfen
Regisseur Powell und sein Autor Leo Marks mit der zerrissenen Figur des Mark, der das Publikum in einen geradezu physisch erlebbaren Konflikt zwischen Gut und Böse stürzt, zu grösstmöglicher Wirkung.
Bleibt noch zu sagen, dass dies nicht zuletzt Karlheinz Böhms grossartiger schauspielerischer Leistung zu verdanken ist. Er spielt den Mark mit beängstigender Intensität einerseits und erschütternder Verletzlichkeit andererseits. Ein schauspielerisches Meisterstück! 


Ansehen? Nicht ansehen?
Falls Sie Filme ohne Blutbäder und Schockeffekte langweilig finden - Finger weg, der hier bietet weder das eine noch das andere. Alle cinèastisch und psychologisch interessierten - oder auch Leute, die gut erzählte Geschichten mit glaubwürdigen Charakteren mögen - Unbedingt ansehen!

Der Film war bei uns als DVD Nr.13 in  der Reihe "Arthaus Collection Klassiker" erschienen; sie ist antiquarisch noch zu finden. Auch die DVD von Universal ist antiquarisch noch erhältlich.

Zudem kann er in Deutschland und Oesterreich bei verschiedensten Anbietern gestreamt werden: Amazon, Google Play, youtube, Maxdome, iTunes. In der Schweiz kann er nur bei Google Play gestreamt werden.



1 Kommentar:

  1. Ja, der war seiner Zeit tatsächlich voraus. Ist aber auch ein wirklich großartiger Film. Man fragt sich, wie Böhms Karriere verlaufen wäre, wenn der Film ein Kassenschlager geworden wäre.

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