Sonntag, 26. Juli 2020

Seh-Empfehlung 5: Lizzie (1957)




Lizzie (1957)
Mit Eleanor Parker, Joan Blondell, Richard Boone, Hugo Haas, Ric Roman, Johnny Mathis u.a.
Drehbuch: Mel Dinelli nach einem Roman von Shirley Jackson
Regie: Hugo Haas
Kamera: Paul Ivano
Musik: Leith Stevens
Studio: Bryna Productions
Kino/TV-Auswertung im deutschsprachigen Raum: keine
Dauer: 81 min

Farbe: schwarzweiss


Die mausgraue, zurückgezogene Büroangestelle Elizabeth Richmond (Eleanor Parker) wohnt bei ihrer ständig angetüdelten, scharfzüngigen Tante Morgan (Joan Blondell), die immer an Elizabeth herummäkelt. Nach einer harmlosen Auseinandersetzung zu Beginn des Films schleppt sich die kopfschmerzgeplagte Elizabeth die Treppe hinauf und bleibt plötzlich stehen. Wir sehen sie in der Totale, von hinten. Und obwohl die Schauspielerin nichts tut - sie steht einfach da - merken wir, dass etwas mit ihr geschieht. Etwas verändert sich. Mit plötzlich fester und gehässiger Stimme krakeelt sie: "You drunken old slut!" ("Du besoffene alte Schlampe!").
"What did you just say?", fragt die überrumpelte Tante. Elizabeth dreht sich um, jetzt wieder ganz ihr vorheriges, mäuschenhaftes Selbst und fragt verwirrt, was sie meine; sie hätte doch gar nichts gesagt.


Eleanor Parker!
Es ist mir ein Rätsel, wie Eleanor Parker diese Verwandlung sicht- oder besser: spürbar gemacht hat. Der Effekt wird ohne Lichtveränderung, drohend anschwellende Musik oder Sprecial-Effects erreicht - allein schauspielerisch. Obwohl wir Miss Parker nur von hinten sehen und noch bevor die Thematik des Films angesprochen wird, nehmen wir die Veränderung, die in Elizabeth vorgeht, wahr. Es ist der erste Moment im Film, in dem "die Andere" sich zeigt. Er erzeugt Gänsehaut, etabliert das Thema (multiple Persönlichkeit) und saugt einen richtiggehend in den Film hinein. Er etabliert den Ton von Lizzie: Das Thema wird handfest angegangen, mit den Mitteln des Unterhaltungsfilms. Kein politisch korrekter Schlingerkurs.
Das kann man Lizzie vorwerfen, trotzdem ist er damit ehrlicher als der ihm verwandte The Three Faces of Eve (dt.: Eva mit den drei Gesichtern), auf den hier noch näher eingegangen wird. Letzterer geht dieselbe heikle Thematik mit Glacéhandschuhen an und gibt sich einen wissenschaftlichen Anstrich - obwohl er im Grunde auch nichts anderes tut, als den Defekt zu Unterhaltungszwecken auszubeuten. Da ist Lizzie direkter, und das ist gut so.


Im Mittelpunkt steht besagte Elizabeth Richmond, eine unscheinbare Frau, die ohne es wahrzunehmend an einer multiplen Persönlichkeitsstörung (heute: dissoziative Identitätsstörung) leidet: Drei Seelen wohnen in ihrer Brust. Eine davon, die titelgebende Lizzie, will sich befreien. Sie ist wild, laut und verrückt nach Abenteuer (mit Männern). Lizzie schreibt Drohbriefe an Elizabeth und kündigt an, sie umzubringen – was die hoch sensible Elizabeth zutiefst verstört. Unter psychiatrischer Behandlung taucht später noch eine dritte Person auf, Beth, das Kind, das sich seit einem verstörenden Erlebnis nie mehr gemeldet hat, das "untergetaucht" und das Feld Elizabeth und Lizzie überlassen hat. Die Vorlage zum Film beruht auf einem wahren Fall, doch auch dazu später mehr.

Es ist fast unheimlich, wie die heute zu Unrecht kaum mehr bekannte Eleanor Parker zwischen den drei Persönlichkeiten hin und her wechselt und jeder der drei Glaubwürdigkeit verleiht. Einmal mehr (nach der Sichtung des Gefängnisdramas Caged) musste ich mir ob der Verwandlungsfähigkeit Parkers die Augen reiben. Trotz einiger Ausrutscher ins Overacting ist ihr Spiel atemberaubend. Es gibt Szenen in diesem Film, wo sie praktisch übergangslos von einer Persönlichkeit in eine andere hinübergleitet, ohne Schnitt, mitten in einer Einstellung. Es scheint, als würde sie mitten im Spiel das Gesicht wechseln. Parkers verblüffende Darstellung allein würde einen schon an die Leinwand fesseln. Doch auch die anderen Darsteller, insbesondere Joan Blondell und Hugo Haas, der auch Regie führte, überzeugen. 

Hugo Haas

Lizzie macht deutlich, dass Haas ein durchaus begabter Regisseur war – Schauspielerführung war vielleicht nicht sein Ding, doch seine effektive Inszenierung mit kleinsten Mitteln kann sich sehen lassen. Auch er ist heute vergessen. Allerdings nicht in allen Teilen der Welt: In seiner alten Heimat hat der aus der ehemaligen Tschechoslowakei stammende Schauspieler und Regisseur noch heute einen Namen. Dort sind zumindest jene Filme noch zu sehen, mit denen er es vor seiner Flucht vor den Nazis zu beträchtlichem Ruhm gebracht hatte.
In den USA fing er wieder bei Null an, arbeitete sich nach oben, zuerst als Filmschauspieler in zahlreichen Nebenrollen, bis er die finanziellen Mittel für eine eigene, winzige Produktionsfirma beisammen hatte. Als unabhängiger Produzent konnte er als Autor, Regisseur und Darsteller in Personalunion mit kleinstem Budget und fernab der grossen Studios Filme herstellen -
insgesamt 15 wurden es zwischen 1951 und 1962. Viel später einmal wurde er von irgendeinem schreibenden Simpel mit Ed Wood verglichen (wahrscheinlich weil auch dieser gleichzeitig produzierte, Regie führte, die Drehbücher schrieb und in seinen Filmen schauspielerte). Dann könnte man Haas aber genauso gut auch mit Orson Welles vergleichen, der tat all das auch. Und es wäre genauso falsch: Haas reichte künstlerisch nicht Orson Welles heran. Derart grottenschlecht wie Ed Woods Werke waren die seinen aber beileibe nicht - wie man nach der Visionierung von Lizzie feststellen kann.

Lizzie ist einer von drei Filmen, die von Haas heute noch auf DVD zugänglich sind. Er ist als eine Art fiktionalisierender Aufklärungsfilm konzipiert, der versucht, dem Publikum das Phänomen der multiplen Persönlichkeitstörung näher zu bringen. Dabei orientiert er sich an einem Roman von Shirley Jackson, welche sich über die Verfilmung mit dem Verdikt „Abbott & Costello Meet Multiple Personality“ mockiert haben soll. Dass im selben Jahr mit The Three Faces of Eve ein grosses Studio einen gefälligeren, stromlinienförmigeren Film zum selben Thema herausbrachte der Lizzie in den Schatten stellte - nicht zuletzt, weil er mit einem Oscar dekoriert wurde - war Pech; Lizzie verschwand im Schlund des Vergessens. 

Lizzie vs Eve
Allerdings ist ein Vergleich der beiden Filme höchst interessant!

Genau wie Lizzie erzählt The Three Faces of Eve von einer jungen Frau, die zunächst ohne es zu wissen an einer dissoziative Identitätsstörung leidet und ebenfalls drei Persönlichkeiten hat. Die «Alltagsversion» von Eve ist zudem ebenfalls eine mausgraue, zurückgezogene Frau; hier ist sie Hausfrau und hat eine kleine Familie. Die «andere Eve», die nur sporadisch zum Vorschein kommt, ist eine vergnügungs- und männersüchtige Göre – genau wie in Lizzie. Und ebenfalls wie in Haas' Werk kommt am Ende eine dritte Persönlichkeit zum Vorschein – das lange verschüttete Original. Doch damit nicht genug: Three Faces of Eve folgt auch noch genau derselben Dramaturgie wie Lizzie!

Dass die Parallelen purer Zufall sind, schliesse ich aus; dafür sind es zu viele. "Aber laufen nicht alle Fälle von dissoziativer Identitätsstörung nach demselben Muster ab?", fragt man sich als psychologisch Unbedarfter. Doch diese These lässt sich nach einigen Internet-Recherchen ausschliessen.
Liegt demnach also irgendwo auf dem Weg von den beiden Buchvorlagen zu den Filmen eine Plagiatsgeschichte verborgen?

Shirley Jackson veröffentlichte den Roman, auf dem «Lizzie» basierte in demselben Jahr, wie die beiden Psychiater Corbett H. Thigpen und Hervey M. Cleckley ihre Untersuchungen jenes Falls publizierten, auf dem The Three Faces of Eve (Regie: Nunally Johnson) basierte. Jacksons Roman erschien nach der Studie.
Drehbuchautor/Regisseur Nunally Johnson brachte seinen Film in demselben Jahr heraus, in dem auch Hugo Haas' Film in die Kinos kam. 

Die Bücher: beide 1954; die Filme: beide 1957.
The Three Faces of Eve folgt wie erwähnt genau derselben Dramaturgie wie Lizzie. Er kam nach Lizzie in die Kinos. War Nunally Johnson das Drehbuch des anderen Films vielleicht bekannt, bevor er in die Kinos kam? Studiospionage war zwar nicht üblich, kam aber vor. Johnson müsste das Drehbuch gekannt haben, bevor Lizzie in Produktion ging und es dann ab- oder umgeschrieben haben.
Eine andere Vermutung klingt plausibler: Beide Vorlagen (die Bücher) beruhten auf demselben Fall. Shirley Jackson, eine Autorin von Horror- und Schreckensromanen, könnte denselben Fall gekannt haben, oder ihr Roman kupferte bei der Studie der beiden Psychiater ab– was in meinen Augen wahrscheinlicher ist, nicht zuletzt, weil die Studie vor dem Roman erschien und der Fall vorher öffentlich ziemlich sicher nicht bekannt war.
Anzeichen von Plagiarismus sind also nicht von der Hand zu weisen.

Wie auch immer der Fall gelagert gewesen sein mochte - wir stehen vor dem seltenen Phänomen, zwei Filme desselben Jahrgangs zur gleichen Geschichte zu haben - der eine ein Klassiker, der andere vergessen. 

Lizzie ist heute ist auf einer DVD der „Warner Archive Collection“ aus den USA wieder
greifbar – zum Glück, denn schlecht ist er keinesfalls!
Natürlich kenne ich die Romanvorlage nicht, aber ich glaube, man darf sagen, dass der Film, für sich genommen, gelungen ist. Der Zugang zum Thema überzeugt, das Thema steht nackt, ohne in überflüssigen konventionellen Schnickschnack wie Lovestory oder Krimihandlung verpackt zu sein, im Mittelpunkt.
Lizzie wirkt, das wurde bereits erwähnt, wie ein Aufklärungsfilm zum Thema - freilich ohne die distanzierende Haltung dieses Genres.
Sein grösster Pluspunkt aber ist dies: Er handelt das schwierige Thema auf einer den Zuschauer involvierenden, zutiefst menschlichen Ebene ab. Am Ende steht die Erkenntnis, dass die menschliche Seele
ein zerbrechlicher Schatz ist. Der Schluss kommt, jenseits des Aufklärungsduktus und ganz unaufdringlich, einem Appell an die zwischenmenschliche Achtsamkeit gleich. Dieser geht unter die Haut und wirkt nach.
Und dieser Aspekt ist es, der The Three Faces of Eve abgeht und ihn somit vom Verdacht, sein Thema auszubeuten, nicht befreit.





 Michael Scheck

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