Freitag, 12. Juni 2020

Seh-Empfehlung 3: Wenn ich eine Million hätte (If I Had A Million, 1932)


Ein vergessener Film

If I Had A Million (dt.: Wenn ich eine Million hätte, 1932)
Mit Richard Bennett, Charlie Ruggles, Wynne Gibson, George Raft, W.C. Fields, Alison Skipworth, Charles Laughton, Gene Raymond, Gary Cooper, May Robson, Jack Oakie, Roscoe Karns, Mary Boland u.a.
Drehbuch: Joseph L. Mankiewicz, Ernst Lubitsch, Claude Binyon, Isabel Dawn u.a. nach einer Story von Robert D. Andrews
Regie: Ernst Lubitsch, Norman Taurog, Norman Z. McLeod, Stephen Roberts, James Cruze, H. Bruce Humberstone und William A.Seiter

Genre: Komödie, Drama
Studio: Paramount
Kino/TV-Auswertung im deutschsprachigen Raum: Kinopremiere im Oktober 1933
Dauer: 88 min
Farbe: s/w

Als der MGM-All-Star-Film Grand Hotel im September des Jahre 1932 Premiere hatte, arbeitete man in den anderen Studios bereits fieberhaft an ähnlichen Projekten. Man wollte MGM schliesslich in nichts nachstehen.
Irving Thalberg hatte die Idee, mit Grand Hotel erstmals einen Film mit einem Grossaufgebot von fünf Stars zu wagen - statt der bis dahin üblichen zwei. Im von der Depression gebeutelten Amerika der Dreissigerjahre war das ein Risiko, das sich an der Kinokasse allerdings auszahlte: Grand Hotel wurde ein Hit. Thalberg legte im Folgejahr bei MGM sogleich mit Dinner at Eight nach, und auch die anderen Studios zogen mit - Universal etwa mit The Old Dark House (1932) oder
Paramount mit The Big Broadcast und If I Had A Million (beide ebenfalls 1932).
Der letztere, ein Episodenfilm, wies zudem ein originelles Konzept auf, das zwar damals nicht neu war, das aber Arbeitsteilung ermöglichte und dadurch höchst effizient war; das heisst, es konnte die Kinokassen schneller erreichen als ein Spielfilm mit durchgehender Handlung.


Der Film besteht aus acht Episoden und einer Rahmenhandlung. Fast jede Episode hatte einen anderen Regisseur (zwei Regisseure übernahmen jeweils zwei statt nur eine Epiosode) und einen anderen Stab an Mitarbeitern und Schauspielern. So konnten die Episoden simultan vorbereitet und kurz hintereinander abgedreht werden, was gegenüber einem herkömmlichen Spielfilm weniger Zeit in Anspruch nahm. Auf diese Weise konnte man schnell auf den Grand Hotel-Erfolgszug aufspringen.
Dass der Film dabei nicht zur beliebigen Nummernrevue geriet, dafür sorgte das bereits erwähnte originelle Konzept. Und möglicherweise Ernst Lubitsch, dem die Gesamtleitung des Projektes übertragen wurde.


In der von Norman Taurog inszenierten Rahmenhandlung wartet die Finanzwelt auf den
nahen Tod des Stahlmagnaten John Glidden (Richard Bennett), der allerdings nicht daran
Richard Bennett und May Robson (sitzend)
denkt, den Löffel abzugeben. Dazu gedrängt, ein Testament aufzusetzen, verfällt der springlebendige Glidden der Idee, wildfremden Leuten je eine Million zu schenken - lieber, als das Geld seinen raffgiereigen Verwandten zu überlassen. Ein Telefonbuch und eine Pipette helfen ihm, die Glücklichen nach dem Zufallsprinzip zu ermitteln.
Die Episoden des Films erzählen sodann von den Reaktionen von acht dieser wildfremden Leute; alle sind verbunden durch die Figur des Stahlmagnaten, der meist zu Beginn jeder Folge einen kurzen Auftritt als Wohltäter hat.


Die Glückspilze sind: ein tollpatschiger Verkäufer in einem Porzellangeschäft (Charlie Ruggles), eine Prostituierte (Wynne Gibson), ein Fälscher (George Raft), ein abgehalfterter Vaudeville-Star und dessen Gattin (W.C. Fields und Alison Skipworth), ein Buchhalter (Charles Laughton), ein zum Tod Verurteilter (Gene Raymond), ein Marinesoldat (Gary Cooper) und eine im Altenheim lebende Dame (May Robson).

Die meisten Episoden und auch die Rahmenhandlung sind komödiantischer Natur, die Geschichten um den Fälscher und jene um den Todeskandidaten jedoch sind dramatisch.
Letztere fällt gleich mehrfach aus dem Rahmen. Erstens, weil sie als einzige der Episoden, missraten ist: Gene Raymond ist grauenhaft schlecht als Todeskandidat, der zwischen Freude, Hoffnung und Horror hin- und hergerissen ist. Die Rolle ist allerdings undankbar, denn sie ist praktisch unspielbar. Zu allem Unglück wird Raymonds von Gefühlsausbrüchen verzerrtes Gesicht ständig in Grossaufnahme gezeigt. Weil er dabei auch noch bis zur Hysterie aufdreht, wirkt sein Spiel lächerlich. Unbegreiflich, dass der Regisseur seinen Darsteller nicht zu weniger Exaltiertheit ermahnte, ihn dagegen ständig in Grossaufnahme vorführte.
An dieser Episode wird deutlich, wie nah die Stummfilmzeit damals noch war: Was Raymond hier abliefert, entstammt der pantomimischen Schauspielschule des Stummfilms; auch Regisseur James Cruze, einst selbst Schauspieler, hatte das Regiehandwerk im Stummfilm gelernt.
Zweitens ist "Death Cell" die einzige Episode, welche eine überschwängliche Reaktion eines Beschenkten auf den Scheck zeigt.
In den anderen Teilen wird deren Reaktion entweder einfach ausgespart oder sie fällt nüchtern aus.
Charles Laugton etwa zeigt als Buchhalter äusserlich gar keine Reaktion, ausser, dass er sich von seinem Arbeitsplatz erhebt und sich gemächlich auf den Weg zur Chefetage macht. Gary Cooper als Marinesoldat nimmt die Geste des Millionärs schon gar nicht ernst und W.C. Fields und
Alison Skipworth reagieren, als wäre das Geschenk etwas völlig Alltägliches.
Die Drehbuchautoren aller anderen Episoden waren sich der einen heiklen Stelle des Werkes bewusst. Einzig der (unbekannte) Autor der Todeszellen-Sequenz ist in die Falle getappt, respektive hatte seine Geschichte in eine Ecke geschrieben, aus der weder der Regisseur noch der Hauptdarsteller herausfinden konnten.

Die Autoren sämtlicher anderen Episoden beweisen in hohem Mass Talent, Witz und Originalität, ihre Vignetten besitzen samt und sonders grossen Unterhaltungswert und erweisen sich als sehr amüsant.
Es gibt zwei weitere Episoden, auf die hier näher eingegangen werden soll: "The Clerk" von Ernst Lubitsch und "Violet" von Stephen Roberts / Joseph L. Mankiewicz.

"The Clerk" ist gerade im direkten Vergleich mit den Segmenten der anderen Regisseure/Autoren interessant, denn der Vergleich birgt ein Lehrstück über den Unterschied zwischen
Charles Laughton in "The Clerk"
gutem und meisterhaftem fimischem Erzählen.
Lubitsch, der "The Clerk" im Alleingang konzipiert hat, braucht zwei Minuten, um zu erzählen, wofür andere Regisseure oder Autoren üblicherweise mehr Zeit und vor allem mehr Worte verwenden.

Lubitsch schafft das Kunststück, den Chef des Buchhalters mittels eines Treppenhauses und drei unterschiedlich beschrifteter Türen in ein paar wenigen Einstellungen zu charakterisieren - bevor man diesen überhaupt zu Gesicht bekommt! Wenn er dann kurz ins Bild kommt, dient der Anblick nur der Bestätigung.
Ein Gang durchs Treppenhaus, drei Türen, ein kurzer Blick auf den Chef - und einer der schönsten  Gags der Filmgeschichte zündet.
"The Clerk" ist ein Meisterwerk cinématografischer Ökonomie!


Die andere herausragende Episode ist "Violet", von Joseph L. Mankiewicz ("All About Eve") geschieben. Sie funktioniert ähnlich: In zwei Minuten ist die Geschichte erzählt, die Hauptfigur umrissen, die Pointe platziert. Hier wird Violet, eine Prostituierte (Wynne Gibson) von Millionär Glidden in der Abstiege aufgesucht, in der sie arbeitet. Das Millieu bildet einen krassen Gegensatz zu dem Luxushotel, in das sie nach dem Geldgeschenk einzieht - und kommt die Sache mit dem Kissen; hier ist es wieder ein banaler Gegenstand, der dem Autor dazu dient, ein scharfes Schlaglicht auf ein Leben zu werfen. Auch dieses Geschehen kommt ohne Worte aus.

Diese beiden Episoden bilden die Höhepunkte des Films - was den Wert der anderen aber
nicht schmälert. Sie sind - mit Ausnahme von "Death Cell" - liebevoll gearbeitete Kurzfilm-Kleinode, die wunderbar unterhalten und ein überraschend rundes Ganzes ergeben.
If I Had A Million ist ein zu Unrecht vergessener Film, der grosses Vergnügen bereitet und der definitiv einen Blick wert ist!
Alison Skipworth und W.C. Fields

Der Film ist hierzulande weder auf Blu-ray noch auf DVD erhältlich.
Auch in den USA oder in England ist er unauffindbar - offenbar blockiert dort ein Rechtsstreit die längst fällige Herausgabe.
In Frankreich allerdings wird man fündig: Dort ist If I Had A Million in einer Doppel-Edition (Blu-ray + DVD) in hervorragender Bild- und Tonqualität von Elephant Films erhältlich. Auch eine "nur DVD"-Ausgabe ist in Frankreich erhältlich. Beide Editionen mit englischem Originalton und französischen Untertiteln.


Michael Scheck

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